Warum pilgern wir ?
Das Wort „pilgern“ geht zurück auf das lateinische „pergere /per agere“. Übersetzt bedeutet dies „jenseits des Ackers“ oder “ in der Fremde“. Im Unterschied zur Wallfahrt, bezeichnet die Pilgerschaft meist eine längere, religiös motivierte Reise. Bei diesem Begriff denken wir an die Tradition der oft jahrelangen Reisen in das Heilige Land, nach Rom oder nach Santiago de Compostela.
Pilgerten die Menschen in früheren Zeiten fast ausschließlich aus religiösen Motiven, so wird heute auch gepilgert, ohne einer bestimmten Religion anzugehören: einfach, um den Alltagsstress zu vergessen und den Kopf freizubekommen. Und trotzdem: Egal, ob man sich nur eine Auszeit gönnen möchte oder einen Schicksalsschlag verarbeiten will – der Pilgerweg bleibt immer auch ein spiritueller Weg.
Pilgern ist nicht immer religiös motiviert
Pilgern ist kein typisches christliches Merkmal: In allen Weltreligionen ist die Pilgerreise eine besondere Beziehungspflege zwischen Gott und den Menschen. Reisende sind Suchende, die sich als Moslem, Jude, Hinduist, Buddhist oder Christ auf den Weg machen, um mit ihrem Gott Verbindung aufzunehmen.
Da die Tradition des Pilgerns in jeder Religion etwas anders gelagert ist, gibt es nicht die eine Entstehungsgeschichte des Pilgerns. Zurück geht der Pilgerbrauch aber immer auf eine Erfahrung, die gläubige Menschen gemacht haben: Auf bestimmten Wegen oder an bestimmten Orten spüren sie göttliche Kräfte.
Pilgerwege gibt es viele, aber eines verbindet sie alle: Egal, ob das Grab des Heiligen Jakobus in Spanien besucht wird oder die Statue der Heiligen Maria im französischen Lourdes das Ziel ist – Pilger sind immer auch auf der Reise zu sich selbst. Und diese Wegstrecke ist oft der wahre Grund des Pilgerns und unterscheidet es von allen anderen Formen der Fortbewegung.
Pilgerboom im Mittelalter
Im Mittelalter erlebt das Pilgern einen Boom. Es gab drei bedeutende Fernpilgerziele, zu denen ein Christ in seinem Leben pilgern konnte: Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela. Letzteres hat seine Blütezeit vor allem der Tatsache zu verdanken, dass das Heilige Land, also auch Jerusalem, von Arabern besetzt und Rom vielen bußwilligen Pilgern aufgrund der für die damaligen Verhältnisse schon ordentlich ausgebauten Straßen nicht anstrengend genug war. Das Ziel jeder Pilgerreise konnte und kann aber jeder als heilig betrachtete Wallfahrtsort, etwa eine Kirche oder das Grab einer Heiligen, sein.
Herkunft und Bildung sind beim Pilgern zweitrangig. Pilger kommen aus jedem Stand – eine Idee, die im standesgeprägten Mittelalter gerade Menschen aus den unteren Schichten begeisterte. Die Motive der Reise waren und sind jedoch äußerst vielfältig. Zuallererst sind die Menschen aus religiösen Gründen unterwegs: Pilgern für das Seelenheil, aus Dankbarkeit, aufgrund eines Gelübdes oder als Buße.
Im Spätmittelalter nahmen sogar weltliche Gerichte das Pilgern in ihren Strafenkatalog auf. Das ging so weit, dass eine Strafpilgerreise nach Santiago vor der Todesstrafe bewahren konnte. Im 15. Jahrhundert pilgerten Menschen zunehmend auch aus Abenteuerlust und weil sie andere Länder und Kulturen kennenlernen wollen.
Als Pilgerziel nicht immer unumstritten: die Kathedrale in Santiago
Dabei bringen sogenannte Berufspilger die spirituelle Reise im Spätmittelalter immer mehr in Verruf. Sie lassen sich von reichen Leuten bezahlen und pilgern im Namen ihres Auftraggebers eine bestimmte Strecke, mit der sich ihr Kunde dann brüstet. Auch andere Trittbrettfahrer nutzen die großzügigen Rechte, die es jedem Pilger zu dieser Zeit erlauben, zollfrei zu reisen und umsonst verpflegt und untergebracht zu werden, aus. Dabei wird der eigentliche Sinn des Pilgerns völlig verdreht.
Während der Reformationszeit nimmt das Pilgern stark ab. Martin Luther ist nicht ganz unschuldig daran. Er vergleicht das religiös motivierte Pilgern im 16. Jahrhundert mit dem Ablasshandel, bei dem sich Menschen durch den Kauf von sogenannten Ablassbriefen weniger Zeit im Fegefeuer erhofften. Luther bezeichnet das Pilgern als „Narrenwerk“ und spottet über den Jakobsweg nach Santiago de Compostela: „Lauf nicht dahin, man weiß nicht, ob Sankt Jakob oder ein toter Hund daliegt.“ In Norwegen wird das Pilgern ab 1537 sogar unter Todesstrafe verboten und von den damals herrschenden Protestanten als Irrlehre angeprangert.
Doch auch die Pilgerbewegung wird reformiert: Die Beweggründe des Pilgers werden in der breiten Masse nicht länger vom Zwang und festen Regeln geprägt, sondern gelten als freiwillig und individuell. Die Strecke muss beispielsweise nicht mehr in einer bestimmten Anzahl von Tagen zurückgelegt werden.
Spätestens seit dieser Veränderung ist das auch der Hauptunterschied zwischen einer Pilgerreise und einer Wallfahrt, zwischen denen die Grenzen manchmal verschwimmen. Während der Wallfahrer Dauer, Ziel und Anliegen ganz klar definiert hat, sind es beim Pilger eher die Begegnungen und Erlebnisse unterwegs, die den Reiz der Reise ausmachen.
Eine Pilgerreise war und ist immer auch ein Abenteuer. Trotzdem bleibt das Pilgern nach dem Boom im Mittelalter bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein eine Beschäftigung, die nur wenige Menschen für sich entdecken.
Der moderne Pilger
Pilgern bewegt Körper und Geist
Erst seit einigen Jahrzehnten ist das Pilgern in Europa von einer breiten Öffentlichkeit wiederentdeckt worden. 1987 wird der Jakobsweg vom Europarat zur europäischen Kulturroute erhoben und ausdrücklich empfohlen. Wiederentdeckte Wegenetze, steigendes kulturelles Interesse und der Wunsch nach Entschleunigung locken viele Menschen auf den „Camino“.
Auch deutsche Pilger frequentierten in den vergangenen Jahren wieder vermehrt die Strecken. Zu verdanken ist dieser Aufschwung auch Moderator und Comedian Hape Kerkeling. Mit der Veröffentlichung seines Bestsellers „Ich bin dann mal weg“ im Jahr 2006 hat er nicht nur eine neue Redewendung geprägt, sondern ebenso die deutschen Pilgerzahlen in die Höhe schnellen lassen.
Pilgern ist heute wieder genau das, was Hippocrates, der berühmte Arzt der Antike, mit dem Zitat „Gehen ist des Menschen beste Medizin“ verdeutlicht: eine ganzheitliche Bewegungskur für Leib und Seele. Hatten die meisten Menschen damals keine andere Fortbewegungsmittelwahl als die eigenen Füße, ist diese Sehnsucht nach Einfachheit in der Gegenwart wieder ein Luxusgut, das das eigene Leben ordnen oder durcheinander bringen soll. Dabei entdecken viele Menschen die Form des Pilgerns für sich. Nicht unbedingt ausschließlich religiös motiviert, aber doch auf der Suche – nach sich selbst, nach anderen oder nach Gott.
Das Besondere an der modernen Pilgerbewegung: Die Reise zu sich selbst, die alle Pilger verbindet, ist gleichzeitig sehr individuell. Das „Auf dem Weg sein“ ist auch abseits der Pilgerbewegung zum Lebensmotto geworden. Der Weg ist das Ziel und unterwegs sein ist wichtiger als Ankommen
Autor: Daniel Schneider (planet-wissen.de) bearb. Artur Zoll