Warum gehen wir in die Berge?

…weil sie da sind
Als George Mallory gefragt wurde warum er auf den Mount Everest steigen wolle gab er die lapidare Antwort: „Weil er da ist.“ Könnte das wirklich ein Grund sein, all die Anstrengungen und Hindernisse auf sich zu nehmen, um auf die Berge zu steigen? Früher waren die Berge
der Sitz der Götter. Sie galten in allen frühen Kulturen als etwas heiliges, unberührbar, um die „Götter“ nicht zu stören. Zum Beispiel der griechische Olymp, der Kailash in Tibet, der Ayers rock in Australien, der Fujiyama in Japan. Gerade um die Berge wurde ein großer Bogen gemacht: Wer wollte sich schon freiwillig der Willkür von Wetterkapriolen aussetzen und sich zum Spielball der Naturgewalten machen?
Auch der Mount Ventoux in der Provence war ein heiliger Berg der Kelten, bis er 1336 von Petrarca bestiegen wurde. Er war damit vermutlich der erste Berg-Steiger, der einen Berg zum Selbstzweck bestieg und seine Naturerfahrungen schriftstellerisch verarbeitete. Vermutlich ist es auch die Neugier, die Menschen antreibt sich in unbekanntes Gelände zu wagen. Und es ist möglich, Berge zu besteigen – oder es zumindest zu versuchen. Allein diese Möglichkeit, dieses Prinzipiell-Mögliche, weckt Verlangen.

…. weil wir die Herausforderung suchen!
Da, wo es steil wird, gibt die Welt einen Widerstand vor, der im Flachland in der Form nicht da ist. Das ermöglicht Erfahrungen, die man anderswo nicht machen kann, und regt zum Denken an; in der Atmosphäre des Vertikalen funktioniert der Geist anders.
Es ist nicht zuletzt ein Fluchtziel, um der Hektik von Großstadt und digitaler Dauerbespaßung zu entkommen. Man will sich auf seine Wurzeln und das Wesentliche zurückbesinnen. Was beflügelt das Streben der Menschen? Warum bleiben sie nicht auf dem sicheren Boden, auf den sie in jedem Fall zurückkehren müssen?
Der vitale Mensch spürt in sich eine Kraft, die ihn nach oben treibt, fort vom alltäglichen sicheren Grund. Es ist eine Kraft die Wagnis erfordert, denn das Streben nach Höhe ist mit Gefahren verbunden. Der gesunde Mensch wird von einem Drang angetrieben, sich zu entwickeln, über sich hinauszuwachsen. Dieses Streben nach Höherem ist zu einer Metapher des Lebens geworden, deren Ausdruck auch für andere Lebensbereiche Verwendung findet.
Für Bergsteiger ist streng genommen, nicht der Gipfel das Ziel, sondern die Bewältigung der Schwierigkeiten, den Gipfel zu erreichen. Das Ziel, der Gipfel, wird, kaum erreicht, gleich wieder verlassen und ist austauschbar mit anderen Gipfeln. Das Ziel ist nicht, oben zu sein, sondern oben gewesen zu sein. Der Bergsteiger sucht Gefahren auf, um ihnen zu entgehen. Gerade dadurch, dass der Bergsteiger etwas tut, was an und für sich völlig nutzlos ist, zeigt er: ich kann es mir leisten! Ich nehme die Folgen freiwillig auf mich! Ich brauche mich nicht nur um meine Grundbedürfnisse kümmern, sondern kann eine Art überflüssigen Luxus kultivieren. Und es ist eine besondere Art von Luxus, wenn ich mich freiwillig auf einem primitiven Überlebensniveau quäle, obwohl ich auch in der Zeit und zum gleichen Preis eine Wellness-Kur im Vier-Sterne-Hotel hätte buchen können. Gerade dadurch, dass Bergsteigen zu nichts nütze ist, nützt es .

…. weil es gesund ist!
Ein Ausflug in die Berge wirkt wie ein hochpotentes Antidepressivum. Mit jedem Höhenmeter entsteigt man ein Stück weit seinem Alltag, lässt Sorgen und Problemchen im Tal zurück. Es ist medizinisch erwiesen, dass Bewegung an der frischen Luft auf das Gehirn wirkt. Studien belegen, dass Wanderer die glücklicheren Menschen sind und der Psychiater Markus Fischl von der Landesnervenklinik Linz ist sich sicher: „Wandern wäre unbezahlbar, wenn man es als Medikament verkaufen würde.“ Kein Wunder, denn Wandern regt die Gehirnzellen an, stärkt die Verästelung der Nervenzellen und setzt durch die erhöhte Sauerstoffzufuhr zusätzliche Energie frei. Doch damit nicht genug! Eine Studie der Universität Pittsburgh hat ergeben, dass regelmäßiges Wandern das Risiko von altersbedingtem Gedächtnisverlust um 50% minimiert und nebenbei auch noch die Konzentrationsfähigkeit erhöht: Personen, die unmittelbar nach dem Wandern einen Konzentrationstest absolvierten, schnitten darin deutlich besser ab als jene, die nur einen Stadtbummel unternommen oder sich auf dem Sofa ausgeruht hatten. Die kontinuierliche, vergleichsweise lange Belastung während des Wanderns stärkt das Herz-Kreislauf-System und baut Muskulatur auf. Außerdem werden Trittsicherheit und Gleichgewichtsgefühl geschult. Wandern und Bergsteigen sind somit ein ideales Koordinationstraining. Ein weiteres Plus: Wandern wirkt präventiv gegen Kummer, Antriebslosigkeit und Depressionen.

…. weil wir dabei wachsen können!
Viktor Frankl, der österreichische Psychiater und begeisterter Bergsteiger war wohl der erste der plausible Beweggründe dafür benannte weshalb man auf die Berge steigt: Jemand, der eine Herausforderung annimmt, geht seinen Lebensweg anders, als einer, der ziellos vor sich hin lebt. Der Blick auf den Gipfel, die Vision eines sichtbaren Zieles macht Mut, gibt die Richtung vor, setzt Energien frei, eröffnet Sinn – all das verglich er immer wieder mit einem Kletterer, der gerade dann besonders motiviert ist, wenn er in einer Wand eine unerwartet schwierige Steig-Variante findet. Der Geist müsse den Ängsten und Schwächen der eigenen Seele widerstehen, damit der Mensch an die Grenzen des ihm Möglichen gelangen könne. In der Kletterei, im gefahrvollen Balancieren über dem Abgrund, zwischen Sein und Nichtsein wiederum sah er eine heilsame Übung, die „Trotzmacht des Geistes“ zu stärken, um auch gegen die Alltagsängste gewappnet zu sein. Der Umgang mit der Angst lässt sich modellhaft also durchaus am Felsen üben.
Reinhold Messner hat es einmal so formuliert: „Die tiefsten Gründe auf die Berge zu steigen liegen darin, dass ich die stärksten Erfahrungen nur haben kann, wenn ich bis an den Rand der Möglichkeiten gehe… Wir steigen nicht auf die Berge, um Gipfel zu erreichen, sondern um heimzukehren in eine Welt, die uns als neue Chance, als ein nochmals geschenktes Leben erscheint“ Und Heinz Zak meinte dazu: „In vielerlei Hinsicht ist Klettern für mich eine Metapher für ein glückliches Leben geworden. Ich glaube, dass man, um glücklich zu sein, Anstrengungen auf sich nehmen muss, sich selbst führen und planen muss, um diese Geisteshaltung zu erreichen. Klettern ist dabei nur ein Transportmittel. Deine Leistungen im Klettern sind weit weniger bedeutend als das, was du in diesem Entwicklungsprozess lernst. Nicht was, sondern wie du etwas kletterst, zählt! Wenn du in ehrlicher Absicht etwas erreichen willst, wirst Zugang zu unglaublichen Kräften erlangen“
Ist es das, was in einem gesicherten, stark normalisierten, städtischen Leben nicht mehr zu finden ist? Es wird ein vermeintlicher Gegenpol zu dem erhofft, was die Alltagserfahrung prägt. Wenn beispielsweise ständig von der Ruhe in den Bergen die Rede ist, dann gibt es im Alltag offenbar ein Lärm- oder Stressproblem. Wenn von Authentizität die Rede ist, gibt es offenbar ein Problem mit einer hochgradig durch Kulissenerfahrung durchtränkten Welt.

….weil wir das Extreme suchen!

Inzwischen hat sich das Gebirge zur Sportarena entwickelt. Immer höher, immer weiter, immer schneller ist die Devise. Speed-Bergsteigen, Speed-Klettern, Speed-Skitouren,
Wingsiut-Base-Jumping, Canyoning , Free-Solo-Klettern sind neue Formen der Betätigungen. Berge Täler, Flüsse und Seen der Alpen bieten eine perfekte Spielwiese für extreme und riskante sportliche Betätigungen Extremsportlern geht es um den „Flow“. Sportpsychologen verstehen darunter einen Zustand, in dem der Mensch ganz eins ist mit sich selbst, sozusagen in seinem Tun aufgeht, darin „mitfließt“. In Untersuchungen geben Sportler an, dass sich im „Flow“ alles ganz mühelos anfühle und wie von allein ablaufe. Wer diesen Zustand einmal erreicht hat, will ihn immer wieder erleben – und dabei seine Grenzen ausloten. Bis ins Extreme. Diese Menschen wollen ihre Komfortzone verlassen. Und die sieht bei jedem Menschen anders aus. Wissenschaftler unterscheiden zwischen „Low“ und „High Sensation Seekern“. Extremsportler als „High Sensation Seeker“ brauchen in ihrer Sportart immer neue, komplexe Eindrücke und wollen darin Bestleistungen bringen. Dafür lohnen sich in ihren Augen auch körperliche oder soziale Risiken. Auch die bewusste Auseinandersetzung mit Angst und ihre Kontrolle, die Steigerung des Selbstwerts und des Identitätsgefühls spielen bei den persönlichen Motiven eine Rolle. Ebenso kann der Wunsch, aus einem überzivilisierten Leben auszubrechen und etwas Außergewöhnliches zu erleben, ein Beweggrund sein. Es geht darum, die Kompetenz wieder zu gewinnen, sich Erlebnisse den eigenen Fähigkeiten entsprechend zu erarbeiten. Eine absurde Randerscheinung ist dabei der Drang . sich außergewöhnliche, schwer zugänglich Orte zu suchen, nach dem Motto: „Schau was ich kann und wo ich bin“ und das Selfie dann in den sozialen Netzwerken zu posten. Die Natur wird dabei zur Kulisse der Selbstdarstellung.

…. weil wir es jetzt noch können.

Fast alle Berge sind bestiegen, die Technik und die Sicherheit haben einen hohen Standard erreicht, Leistungsgrenzen sind überschritten. Nirgendwo lässt sich der Klimawandel, so deutlich spüren wie im Gebirge. Naturereignisse wie Lawinen, Überschwemmungen, Bergstürze, Gletscherschmelze nehmen zu.
Vielleicht deshalb startet der DAV gerade jetzt die Kampagne: „Spüre dich selbst“ mit Informationen und Tipps, über analoge und digitale Kanäle, was Achtsamkeit im Bergsport-Kontext bedeuten kann. Es geht um den psychischen und gesundheitlichen Nutzen des Bergsteigens und den achtsamen Umgang in und mit der Natur. Entschleunigung am Berg, könnte das Thema lauten. Mache ich das Gipfelselfie für mich als Erinnerungsanker an einen Tag voll wertvoller Erfahrungen? Oder soll es nur Zeugnis meiner überragenden Leistung sein, auf dass mich die virtuelle Gemeinschaft bewundere? Wie schaffe ich es, mehr Kraft und Energie aus einer „normalen“ Wanderung zu ziehen? Und was erzählt mir eigentlich die Natur, in der ich mich bewege, wenn ich nur bewusst hinhöre und -sehe? Die Kampagne will Denkanstöße, Anreize und Ideen liefern, die Bergsportlerinnen und Bergsportler zu einem selbstreflektierten und selbstbewussten Umgang mit ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit anregen. Es geht auch darum die innere Einstellung zu ändern, eine eigene Haltung zu finden. Eine Haltung zur Frage, was uns in jedem einzelnen Moment gerade wichtig ist und was uns in Zukunft wichtig sein soll.

Artur Zoll

Quellen:
https://www.sueddeutsche.de/reise/alpen-berge-tourismus-interview-Jens Badura 11/2018
https://www.alpenverein.de/bergsport/gesundheit/spuere-dich-selbst/spuere-dich-selbst-die-neue-dav-kampagne-fuer-gesundheitsorientierten-bergsport_aid_35056.html
https://www.bergnews.com/service/viktor-frankl/viktor-frankl.php, 2005
Warwitz, S.A.:Sinnsuche im Wagnis, Baltmannsweiler, 2016
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